Der Band „Anita Berberová – Studie“ des tschechischen Choreographen, Tänzers und Autors Joe Jenčík beschreibt in einzigartig genauer sowie emotionaler Weise Dramaturgie und Wirkung der Choreographien von Anita Berber. Joe Jenčíks Beschreibungen verschiedener Tänze und der Arbeitsweise Anita Berbers bildeten die Basis für die ANITA BERBER – RETRO/PERSPEKTIVE von MS Schrittmacher.
Im Rahmen des Projekts veröffentlichten MS Schrittmacher Jenčíks Studie aus dem Jahr 1930 erstmalig in deutscher Sprache, inklusive vier aktueller Essays zu Anita Berber und der Arbeit von MS Schrittmacher innerhalb dieses Tanzfonds Erbe Projekt. Komplettiert wird dieses einzigartige Buch durch bisher unveröffentlichte Fotos der Künstlerin und dem ersten Anita Berber Werkverzeichnis.
LESEPROBE:
Boudoir oder Atelier?
Wenn man von einer Tänzerin spricht, ist es notwendig, auch
bestimmte Privilegien zu berücksichtigen, die sie von jeher
geniesst. Obwohl ihr bürgerliches Leben absolut getrennt
ist vom künstlerischen und mit der derzeitigen oder späteren
künstlerischen Arbeit nichts gemein haben muss, können
wir irgendwann einen gewissen Einfluss beobachten: Mehr
noch, bei einigen ist das bürgerliche Leben direkt a priori
Beweggrund für den künstlerischen Ausdruck. Dass jedoch
das bürgerliche Leben einer Tänzerin die einzige Basis für das
tänzerische Schaffen war, ist, so denke ich, einzig und allein
bei Anita Berber hervorgetreten.
Der künstlerische Ausdruck dieser Frau – der Tanz – war
buchstäblich undenkbar ohne die direkte Einbeziehung ihres
Privatlebens, der bürgerlichen Handlungsweisen, Sitten und
Gebräuche. Die Berber war ein Individuum in den vielen Divisionen
der Terpsichore, deren Substanz des Bürgerlichen der
grundlegende und unverzichtbarste Bestandteil für ihr Schaffen
war. Diese Substanz benötigte sie unbedingt, um ihre
extremen Erlebnisse zu noch extremeren Erlebnissen umzuschmelzen,
die jedoch unerbittlich dem Kunstwerk unterlagen.
Demnach brauchte Anita Berber nie einen Tanzsaal,
damit ist gemeint, dass sie nicht die traditionelle Gepflogenheit
einhielt, am künstlerischen Tanz ausserhalb des täglichen
Lebens zu arbeiten, in einem Raum, fern von allem Banalen
und Trivialen, in dem der Künstler sein bürgerliches Gewand
ablegt und sich in das phantastische Kostüm seiner zweiten,
der künstlerischen Person kleidet. Das Tanzatelier war für sie
unbekannt. Sie brauchte es nicht, und somit verachtete sie
diesen obligaten Raum als kleinbürgerliches Hemd, das sie
nie tragen musste. Ihre Tänze kreierte sie direkt im Getümmel
der Tages- und Nachtereignisse. Von hier aus übertrug
sie diese mit nur einer kleinen Korrektur auf die freien Bretter
der Bühne…
Cocain
Vorhang. Auf dem Boden ein entblösster Körper in einem
leeren Raum, erfüllt von graublauer Morgendämmerung.
Alles tot. Oben, unten, rechts und links, wahrscheinlich auch
in der reglosen Gestalt selbst. Bis ins Detail so, wie sie damals
Hand in Hand mit der zufällig wiedergefundenen alten
Freundin ins Zimmer kam, in dem beide über den in Agonie
liegenden Körper Drostes steigen mussten, der, nachdem
er Kokain genommen hatte, im Delirium lag. Mit dieser Reminiszenz
an eine obszöne Szene, in der ihr zweiter Mann
den traurigen Helden abgab, beginnt Anita Berber eine ihrer
besten Schöpfungen – Cocain.
Also Tod und schwere Regungslosigkeit! Wahrscheinlich
der erste schwere Stoss des schlimmen Gifts, das den Körper
lähmt. Die Seele versucht irgendwo wieder ihre einstige
Herrschaft über den Körper zu erlangen. Kaum sichtbare
Zuckungen der einzelnen Körperpartien deuten dies an. Die
Konvulsionen bemächtigen sich der porzellanhaften Glieder,
und die berauschte Unglückselige kommt unbewusst
durch die Beharrlichkeit der Liebe zum Leben zu sich.
Zumindest in dem Masse, dass die Muskeln gehorchen müssen.
Mit einigen Schwüngen, die an die Poeschen Schwingungen
des langen Pendels erinnern, setzt sich der Körper auf.
Besser gesagt: Er bildet einen seltsamen Knoten Fleisch mit
zwei unbeschreiblichen Schlitzen statt Augen und mit einer
blutigen Wunde als Mund. Der Körper entwirrt sich unglaublich
träge, nach Anweisung eines Etwas, das in diesem
Moment zwischen dem Verstand und der angeschwollenen
Hirnrinde herrscht. Die Tänzerin stellt sich unpersönlich auf
die Füsse. Wahrscheinlich ist sie die Marionette eines grausamen
Waffenstillstands zwischen dem Gift und dem pumpenden
Herzen. Das Blut, von der Natur in die Adern getrieben,
hämmert von einer Stelle zur anderen durch den Körper. Das
Gift, getrieben vom Menschen, hemmt und stört verzweifelt:
Es mischt sich mit gemeiner Kraft in die Angelegenheit,
die dem grossen Geheimnis des Lebens vorbehalten ist. Der
Körper wirkt schrecklich lächerlich und peinlich megalomanisch.
Es brodelt in ihm, auch wenn er von Rauhreif bedeckt
ist. Die imaginären Fetzen eines Aufschreis um den Mund
herum zerfliessen in Verwunderung über plötzliche Visionen,
die vage sind: Diese zerrinnen wiederum vor dem Aufschrei,
und so verfolgt die Tänzerin sich selbst und die Auswüchse
ihrer kranken Vorstellungskraft. Der gesunde Körper kämpft
gegen den vergifteten Körper, und dieser wütet wiederum
im gesunden. Das pumpende Herz muss dann schliesslich
doch erschlaffen, und das Ungeheuer der Kokainpest würgt
sein freiwilliges Opfer. Der Körper der Tänzerin wirft sich
in einer riesigen Kaskade hin. Eine weitere Agonie – diesmal
erinnert sie an den süssen Schlaf einer aus der Hölle von
Spukbildern Befreiten.
Dies alles wird ausgeführt in einer Technik natürlicher
Schritte und ungesuchter Posen. Die Attitudes in diesem Tanz
sind tragisch angebrochen und die Arabesques dämonisch
verlängert. Die Drehungen des Körpers um die eigene Achse,
unerhört langsam wie in Zeitlupe. Die stossartigen
Sprünge – wie Peitschenhiebe – enden immer in einem plastischen, von
Bildhauern erträumten Port de bras. Die Gegenbewegungen
des Kopfes sind unerwartet, dem Gleichgewicht fast unerträglich.
Positionen der Beine: vor allem die grosse vierte Position,
in der sich ein einzigartiges Merkmal dieser originellen
Tänzerin erweist. Die gesamte Technik richtete sich nach der
Dynamik des Traums, abgehoben von der irdischen Planisphäre,
der die gesamte Kraft der Tänzerin in feinste Nuancen
von Leichtigkeit zwingt. Cocain und Morphium bilden
bei Anita Berber den wesentlichsten, ihr persönlich eigensten
künstlerischen Ausdruck, der stellenweise an die pathologische
Studie eines herausragenden Mimen grenzt. Ein Mime, der sich
jedoch rechtzeitig der Form des Tanzes, dem er sich
verschrieben hat, unterzuordnen verstand, ohne ihr treulos
zu werden.
Erhältlich unter: tickets@msschrittmacher.de
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